Bewegung ist nicht gleich Training

Beim letzten Arztbesuch wurde Herrn B. Quem dringend «mehr Bewegung» empfohlen. Er solle sich einen Schrittzähler zulegen, das würde ihm helfen. «O. k., ich beginne aber langsam», dachte sich Herr B. Quem und kaufte sich für den Anfang erst einmal einen Bewegungsmelder …

«Wer kennt ihn nicht, diesen inneren Konflikt, wenn unser Handeln nicht mit unseren Zielen übereinstimmt. Um diese Spannung zu lösen, neigen wir dazu, unser nicht zielführendes Handeln zu rechtfertigen, anstatt ‹am Ball zu bleiben.›»

Zugegeben, die nebenstehende Anekdote war nicht ganz ernst gemeint, aber sie widerspiegelt doch eine der typischen pauschalen Empfehlungen, die wir überall zu hören bekommen. Der Mensch ist – evolutionär betrachtet – ein «Lauftier». Deshalb spricht die Medizin auch von unserem «Bewegungsapparat» und nicht von unserem «Sitzapparat». In der Tat hat die gesellschaftliche, technische und vor allen Dingen die digitale Entwicklung der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass der durchschnittliche Herr B. Quem gerade einmal 1500 Schritte am Tag zu Fuss geht – und dies nicht einmal am Stück. Nehmen wir an, dass Herr B. Quem ­90 Kilogramm wiegt und ­175 Zentimeter gross ist. Dann verbrennt er mit diesen 1500 Schritten rund 70 kcal, was etwa 10 Gramm seiner geliebten Zartbitterschokolade entspricht. F

Sein Arzt rechnet ihm vor, dass er mit 10 000 Schrit­-ten pro Tag täglich 467 kcal verbrauchen würde. Da 1 Kilogramm Fett 7000 kcal speichert, würde es genau 15 Tage dauern, bis er 1 Kilogramm Fett abgebaut hätte. Leider ist unser Körper aber viel zu komplex, als dass sich die ­Gewichtsabnahme durch eine so simple Formel herbeiführen liesse.

«Sobald eine minimale Grundleistung vorhanden ist, braucht es nicht ‹mehr Bewegung›, sondern mehr ‹Training›! Erst die Gesetzmässigkeiten des Trainings bringen regelmässige ­Fortschritte.»

Die Kalorien sind erst einmal nur ein Brennwert. Wenn Herr B. Quem tatsächlich seine 10 000 Schritte macht, hat er theoretisch zwar seine 467 kcal verbraucht, aber er kann nicht sagen, ob sein Körper diese Energie aus seinen Kohlenhydratspeichern oder aus seiner Fettverbrennung geholt hat. Um Fette zu verbrennen, braucht der Körper einen deutlich höheren Anteil an Sauerstoff. Ist dieser nicht vorhanden, bleibt die Energielieferung aus den Kohlendraten vorrangig. Wenn seine Muskelzellen nicht über ausreichende «Kraftwerke» (Fachbegriff: Mitochondrien) verfügen und auch nicht ausreichend fettspaltende Enzyme bereitstellen können, springt die Fettverbrennung gar nicht erst an.

Dieses kleine Beispiel zeigt, dass einfache pauschale Aussagen wie «mehr Bewegung» nichts bringen, weil sie zu unspezifisch sind. Klar, wenn der längste Weg eines Hardcore-Bewegungsmuffels bisher nur die Strecke zwischen Sofa und Kühlschrank war, dann wird sich seine Leistungsfähigkeit verbessern, wenn er seinen Kühlschrank in den Keller stellt und so einen Umweg durch das Treppenhaus machen muss. Sein Fitness- und Gesundheitszustand ist dann nämlich so schwach, dass jede Form von Bewegung besser ist, als nur auf der Coach zu liegen.

Der Begriff «Training» beschreibt etwas anderes als «Bewegung». Training bedeutet, an den individuellen Schwachstellen zu arbeiten. Training heisst, Reize zu setzen, die «überschwellig» sind und gezielte Verbesserungen produzieren. Training heisst, ein konkretes Ziel zu definieren und dieses über viele kleine Teilziele zu erreichen.

Das bedeutet, dass man die individuellen Schwachstellen erst einmal definieren muss. Gesundheitsorientierte Fitnesscenter bieten in der Regel diverse Testmöglichkeiten dazu an. So können muskuläre Defizite, Beweglichkeitseinschränkungen oder auch Ausdauerschwächen individuell aufgespürt und mit systematischen Trainingsprogrammen und einem dazugehörigen Coaching gezielt verbessert werden.

«Entsprechende Trainingsmittel wie z. B. Kraftgeräte können so eingesetzt werden, dass sie mit der entsprechenden Sicherheit und der nötigen Intensität den richtigen Trainingsreiz zur richtigen Zeit setzen.»

Training unterliegt bestimmten Trainingsprinzipien, die in der Planung berücksichtigt werden müssen. So ist z. B. der richtige Wechsel von Belastung und Erholung eines dieser Prinzipien. Ein anderes ist die Wahl der trainingswirksamen Intensität. Trainiert man zu unterschwellig, wird keine Entwicklung ausgelöst, ist das Training auf Dauer zu intensiv, geht die Leistung eher in den Keller. Diese und weitere Gesetzmässigkeiten entwickeln sich nicht, wenn man sich einfach nur «irgendwie» mehr bewegt.

Am wichtigsten ist jedoch die Tatsache, dass unser Körper sich sehr rasch an das anpasst, was wir am häufigsten tun. Anpassen bedeutet in erster Linie, dass er die gleiche Leistung mit deutlich weniger Energieaufwand erbringt. Wenn Herr B. Quem also tatsächlich seine 10 000 Schritt absolviert, dann wird er nach kurzer Zeit für diese Leistung weniger Kalorien verbrauchen als zu Anfang, da sein Körper nun ökonomischer arbeitet. Die 10 000 Schritte stellen dann keinen überschwelligen Reiz mehr dar. Darum ist eines der wichtigsten Prinzi­pien im Training das Gesetz der Variation. Nur wer stets neue Belastungsreize setzt, wird sich langfristig weiterentwickeln. Deshalb können Alltagsbewegungen nie ein Training ersetzen, sondern es höchstens ergänzen. Selbst schwere berufliche körperliche Arbeit führt auf Dauer nicht zu mehr Leistung, sondern zu einer hohen Einseitigkeit, die dringenden Ausgleich benötigt. Die Gartenarbeit wird die Rückenbeschwerden von Herrn B. Quem nicht beseitigen, höchstens verschlimmern. Und die «Gassirunde» mit seinem Dackel Waldi wird seine Ausdauer nicht verbessern – höchstens die von Waldi. Wie sieht es denn bei Ihnen aus: Bewegen Sie sich noch oder trainieren Sie schon?